Parsifal: «Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit.»
Wagner, Parsifal
Gurnemanz: «Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.»
Während der letzten sechs Monate habe ich eine Zeitreise unternommen. Statt mich von den Massenabfertigungssystemen der modernen Reisebranche von einem Kontinenten zum anderen verfrachten zu lassen, habe ich mich mit Orten und Menschen auseinandergesetzt, die ich einst gekannt habe. Vor allem bin ich dorthin gereist, wo ich nicht nur meiner Kreditkarte wegen freundlich empfangen wurde. Ich habe alte Freunde wiedergesehen und neue Bekanntschaften gemacht.

Die Reise fing im Elternhaus zusammen mit meinem 90-jährigen Vater an und hörte mit dem Abschiednehmen in der wunderbaren mittelalterlichen Kirche von Stehag auf. Ein langes Leben ist zu Ende gegangen und es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Wer, wie mein Vater, in den dreissiger Jahren auf einem Bauernhof im neutralen Schweden geboren wurde, hatte gute Voraussetzungen, alt zu werden. Die Kindheit und Jugend wurden mit körperlicher Arbeit an der frischen Luft verbracht und im Alter standen die Errungenschaften der modernen Medizin zur Verfügung. Ausserdem musste weder er noch seine älteren Brüder befürchten, in einen sinnlosen Krieg geschickt zu werden. Heute ist alles anderes und die Jugend wird sich wohl damit abfinden müssen, deutlich früher zu sterben. Nicht nur wegen des ungesünderen Lebens, sondern vor allem weil Ressourcenknappheit und Klimawandel die vier Reiter der Apokalypse wieder auf die Bühne geholt haben. Die schwedische Neutralität ist widerstandslos aufgegeben worden und die Rüstungsausgaben steigen weltweit (Trends in World Military Expenditure, 2021 | SIPRI). Während der COVID-Pandemie ist es uns allen klar geworden, dass die Idee der internationalen Zusammenarbeit eine Illusion bleibt. Wir erleben gerade den gefährlichsten Moment der Menschengeschichte, wie Noam Chomsky richtig festgehalten hat.

Als mein Vater mit der Mistgabel auf dem Pferdewagen stand, war der zweite Weltkrieg gerade zu Ende gegangen. Es folgte eine Periode beispiellosen wirtschaftlichen Wachstums und technischen Fortschritts, welche das Denken der Menschen geprägt hat. Vor allem die Kernspaltung und die Verheissung der unbegrenzt verfügbaren Energie (E = mc2) hat die Menschheit fasziniert. Plötzlich schien jedes Problem durch Investitionen in neue Technik lösbar zu sein. Das dafür benötigte Geld sollte durch Wachstum erzeugt werden und die Aufgabe der Politik wurde auf das Bereitstellen günstiger Rahmenbedingungen für die Wirtschaft reduziert. Der Fantasie (bzw. Geldgier) der Menschen waren keine Grenzen gesetzt und zum ersten Mal in der Geschichte wurde Übermut (Hybris) zur Tugend. Wer das Ausmass des Wahnsinns verstehen möchte, soll sich bitte Our Friend the Atom aus dem Jahr 1957 auf Youtube anschauen. In diesem von Walt Disney produzierten Film wird vom deutschen Physiker und ehemaligen SS-Mitglied Heinz Haber der Segen der radioaktiven Strahlung sehr anschaulich und kindergerecht erklärt. Allerdings scheint auch Dr. Haber verstanden zu haben, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe möglichst bald aufhören müsste – die Nutzung der Atomkraft war für ihn die einzige Lösung.
Was dagegenspricht, sich in Fragen, die menschliche Angelegenheiten angehen, auf Wissenschaftler qua Wissenschaftler zu verlassen, ist nicht, daß sie sich bereitfanden, die Atombombe herzustellen, bzw. daß sie naiv genug waren zu meinen, man würde sich um ihre Ratschläge kümmern und bei ihnen anfragen, ob und wie sie eingesetzt werden sollte; viel schwerwiegender ist, daß sie sich überhaupt in einer Welt bewegen, in der die Sprache ihre Macht verloren hat, die der Sprache nicht mächtig ist.
Arendt, Hannah. Vita activa oder Vom tätigen Leben
Der oben genannte Film vermittelt den Eindruck, dass es bei der Kernenergie nicht nur um eine neue Technologie handelt, sondern um eine Revolution der menschlichen Existenz. Heute ist das gleiche Phänomen in der Diskussion der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz (KI) zu beobachten. Die Automatisierung versprach die Abschaffung der physischen Arbeit, die KI das Ende des menschlichen Denkens. Dabei ist die Fähigkeit kritisch zu Denken heute wichtiger als je zuvor.
Warum werden gerade diejenigen Wünsche, die sich auf Irrtümern gründen, in uns übermächtig? Nichts haben sie mir später mehr übelgenommen als meine Weigerung, mich ihrem fatalen Wunschentzücken hinzugeben.
Christa Wolf, Kassandra
Es gab auch vernünftigere Stimmen auf der Welt. Schon während des zweiten Weltkrieges hat sich Erwin Schrödinger (Nobelpreis 1933) Gedanken zur thermodynamischen Erklärung des Lebens gemacht (Was ist Leben?). Seine Ideen, zusammen mit den späteren Arbeiten von Ilya Prigogine (Nobelpreis 1977) und anderen, sind für eine wissenschaftlichen Definition der Nachhaltigkeit ausreichend. Leider hat sich niemand dafür interessiert. Im Jahr 1958 erklärte der renommierte amerikanische Ökonom J. K. Galbraith in seinem Buch The Affluent Society den Kapitalismus zum Auslaufmodell: Wenn Arbeit darin besteht, ein sinnloses Produkt zu erstellen, das niemand braucht und die Umwelt zerstört, wäre es viel besser, nicht zu arbeiten. Auch für diese offensichtlich korrekte Aussage hat sich niemand interessiert.
Im Jahr 1958 haben sich auch meine Eltern kennengelernt. Als sie fünf Jahre später heirateten, war das Buch Silent Spring von Rachel Carson gerade erschienen, das vielleicht als Anfang der Umweltbewegung gesehen werden kann. Vor 50 Jahren, als ich erst fünf Jahre alt war, wurde die Studie Grenzen des Wachstums des Club of Rome veröffentlicht, die aufgrund ihrer Richtigkeit weitestgehend ignoriert wurde. Dafür wurden Wissenschaftler, welche die Studie nicht verstanden haben, später mit dem Nobelpreis geehrt (Why Economists Can’t Understand Complex Systems: Not Even the Nobel Prize, William Nordhaus – Resilience).
Als die kleine Kirche in Stehag im 12. Jahrhundert gebaut wurde, waren die letzten vorchristlichen Tempel im damals dänischen Reich gerade abgerissen und ein Weltbild durch ein neues, nicht weniger falsches, ersetzt worden. Etwa 500 Jahre später hat ein gewisser Galileo Galilei einen bemerkenswerten Brief an die Grossherzogin Christina von Toskana verfasst. Er verteidigt darin die empirischen Wissenschaften, deren Aussagen auf Beobachtungen der Natur basieren, und hält fest, dass die Mächtigen dieser Welt zwar Gesetze, aber keine Naturgesetze, erlassen können. Was dabei auffällt, ist die Naivität Galileos. Er glaubte, dass seine Forschungsergebnisse allein wegen ihrer Richtigkeit akzeptiert werden müssten und verstand nicht, dass die Mächtigen sich nur für ihre Nützlichkeit interessierten. Da die katholische Kirche darin vor allem ein Infragestellen der göttlichen Ordnung gesehen hat, wurde Galileo unter Hausarrest gestellt und zum Schweigen gebracht.
Ich entdeckte vor wenigen Jahren, wie Ihre durchlauchte Hoheit wohl wissen, viele besondere Erscheinungen am Himmel, die bis dahin unsichtbar gewesen waren. Weil diese, sei es wegen ihrer Neuheit, sei es wegen mehrerer Konsequenzen, die sich aus ihnen ergeben, einigen Behauptungen über die Natur widersprechen, die üblicherweise von den Philosophenschulen akzeptiert werden, brachten sie eine nicht geringe Zahl von Professoren gegen mich auf, gleichsam als ob ich diese Dinge eigenhändig an den Himmel gesetzt hätte, um Natur und Wissenschaft in Verwirrung zu bringen.
Galileo Galilei, Brief an die Grossherzogin Christina
Wir müssen die wissenschaftliche Revolution, die vor etwa 400 Jahren stattgefunden hat, neu denken. Sie war weniger ein Sieg der Vernunft als ein machtpolitischer Entscheid, die Priester durch Wissenschaftler zu ersetzen, genauso wie die Könige der Wikinger 500 Jahre früher das Christentum aus realpolitischen Überlegungen eingeführt haben. Weltanschauungen sind nun mal Narrative, die bestehende Machstrukturen rechtfertigen sollen, und die Vertreter der Kirche und der Wissenschaft werden wegen ihrer Nützlichkeit geduldet. Dafür müssen sie einfach so tun, als könnten sie alle Probleme der Menschheit lösen und dem König niemals widersprechen. Die COVID-, Klima-, oder Energiestrategien eines Landes sind aus wissenschaftlicher Sicht immer gut, weil die Wissenschaftler sonst kein Geld bekommen. Ich übertreibe vielleicht ein wenig, aber der Interessenskonflikt ist offensichtlich, da die Forscher ihren Lohn direkt vom Staat beziehen. Es erstaunt immer wieder, wie häufig Forschungsergebnisse im Interesse des Auftraggebers ausfallen. Die Warnung Galileos aus dem Jahr 1615 ist somit ungehört geblieben, und nur so ist die Idee des nachhaltigen Wachstums als Antwort auf den Klimawandel zu verstehen. Diese neuste Inkarnation des Perpetuum Mobiles ist eher durch ihre politische Notwendigkeit als ihre physikalische Machbarkeit zu erklären.
Die Krise der Menschheit ist ein direktes Resultat unseres Weltbildes und deshalb nicht durch neue Technologie zu lösen. Hingegen wäre unabhängige Forschung, die nicht im Interesse der Geldvermehrung durchgeführt wird, sehr wichtig. Die Forschungsförderung führt aber dazu, dass die Universitäten heute keine Kraft des gesellschaftlichen Wandels sind und die Prophezeiung Galileos aus dem Bühnenstück von Bertolt Brecht sich leider bewahrheitet hat. Aus den Forschern ist “ein Geschlecht erfinderischer Zwerge” geworden, die für alles gemietet werden können.
Unter diesen ganz besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man erhoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können.
Brecht, Bertolt. Leben des Galilei
Heute brauchen wir aber keine Wissenschaft, um den schlechten Zustand unseren Planeten zu verstehen. Der grösste Vorteil einer Zeitreise ist vielleicht, dass sie die schleichende Verschlechterung der Umwelt gnadenlos offenbart. Wer zu den Orten seiner Kindheit zurückkehrt, stellt sehr schnell fest, dass die Wiesen und Wälder von damals, durch Strassen, Parkplätze, und Häuser ersetzt worden sind. Die biologische Vielfalt ist einer primitiven Konsumgesellschaft gewichen, was sicher nicht nachhaltig ist. Leider scheinen viele Menschen dies nicht zu verstehen, weil sie jeglichen Bezug zur Natur und zu biologischen Prozessen verloren haben. In der Generation meines Vaters ist praktisch jeder auf einem Bauernhof aufgewachsen und hat verstanden, wie Essen auf den Tisch kommt. Heute ist dies nicht mehr der Fall.
Es geht inzwischen, inmitten von Finanzkrise, Klimawandel, Ressourcenkonkurrenz und Globalisierung der Wirtschaftskreisläufe, schon längst nicht mehr um die Gestaltung einer offenen Zukunft: Aller Schwung ist dahin. Es geht nur mehr um Restauration; um die Aufrechterhaltung eines schon brüchig gewordenen Status quo, in diesem Sinn nicht mehr um Politik, sondern um hektisches Basteln.
Welzer, Harald. Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand

Meine Mutter hat die Zusammenhänge der Natur intuitiv sehr gut verstanden. Mit unglaublicher Energie, Kreativität und künstlerischer Begabung schien sie sich zum Ziel gesetzt haben, die Welt noch schöner zu gestalten. Als sie im Alter von nur 47 Jahren an Krebs erkrankte, haben ihre Kräfte noch ausgereicht, um als Abschied eine letzte Warnung and die Menschheit zu schaffen. Entstanden ist dabei ein Wandteppich mit einer blutenden Erde unter einer kaputten Ozonschicht.
Einige Monate später, im Juni 1988, war sie tot. Den Wandteppich habe ich im Elternhaus wiedergefunden und in unserem Sommerhaus aufgehängt. Möge er dort künftige Generationen zum Nachdenken anregen.
Zeit zum Handeln
Nach meinem sechsmonatigen Sabbatical bin ich hochmotiviert in die Schweiz zurückgekehrt. Ich werde die mir verbleibende Zeit nutzen, um etwas Gutes zu tun.
Hier einige Links zu Aktivitäten, die in den letzten Monaten passiert sind.
- Die Idee der globalen Klimakompensation hat eine eigene Webseite erhalten: Global Climate Compensation.
- Ich habe die grossartige Klimajournalistin Rachel Donald kennengelernt. Sie hat den Podcast Planet: Critical ins Leben gerufen und mich eingeladen, über die Klimakompensation zu sprechen.
- Meine Beiträge für higgs.ch sind vom Energieexperten Thomas Elmiger gerettet worden. Sie sind hier zu finden: Henrik Nordborg schreibt für Energie-Experten.
- Als Physiker habe ich mich von Erwind Schrödinger, Ilya Prigogine und andere inspirieren lassen und arbeite jetzt an einer thermodynamischen Definition der Nachhaltigkeit. Einen ersten Vortrag zu diesem Thema durfte ich im August dieses Jahres an der CMD29 Konferenz in Manchester halten. Die Konferenz hatte nichts mit Nachhaltigkeit zu tun, aber die Organisatoren waren der Meinung, dass das Thema uns allen angeht.
- Ich suche Partner für eine Beteiligung am MEER-Projekt (Solar Radiation Managment | Meer). Es geht darum, die Sonneneinstrahlung an geeigneten Orten mit Spiegeln abzuschirmen.
Was mich in den letzten Monaten besonders beeindruckt und gefreut hat ist die Tatsache, dass immer mehr Entscheidungsträger der Wirtschaft die Notwendigkeit des Handelns einsehen. Es laufen auch Aktivitäten über die ich im Moment nichts sagen darf 😊.
PS: Ich habe im obigen Text bewusst auf gendergerechte Sprache verzichtet. Die Welt der Vergangenheit war männerdominiert, und ich möchte nicht die Frauen für unsere Probleme verantwortlich machen.